Der Mann und die Katze
Der Mann war sehr traurig. Er wußte, daß die Tage seiner Katze gezählt waren. Der Tierarzt hatte wirklich alles getan. Am Ende hatte er gesagt, der Mann solle die Katze mit nach Hause nehmen und es ihr dort so gemütlich wie irgend möglich machen.
Der Mann streichelte die Katze auf seinem Schoß. Die Katze öffnete ihre Augen und betrachtete den Mann. Eine Träne rollte über die Wange des Mannes und landete auf dem Kopf der Katze. Die Katze betrachtete ihn irritiert. „Warum weinst Du?“ fragte die Katze. „Weinst Du, weil Du den Gedanken, mich zu verlieren, nicht ertragen kannst? Weil Du denkst, Du könntest mich nicht ersetzen?“ Der Mann nickte. „Ja.“ – „Und wo, denkst Du, werde ich sein, nachdem ich Dich verlassen habe?“ fragte die Katze. Der Mann zuckte hilflos zusammen.
„Schließ bitte Deine Augen“, sagte die Katze. Der Mann sah die Katze fragend an, tat ihr aber den Gefallen. „Welche Farbe haben meine Augen und mein Fell?“ fragte die Katze. „Deine Augen sind goldfarben, und Dein Fell ist von einem warmen, reichen Braun“, antwortete der Mann. „Wo ist mein Fell am dunkelsten?“ fragte die Katze. „Auf Deinem Rücken, an Deinen Beinen, an der Nase und an den Augen“, antwortete der Mann. „Wo siehst Du mich am häufigsten?“ fragte die Katze. „Ich sehe Dich auf dem Küchenfensterbrett, die Vögel beobachten. Auf meinem Lieblingssessel, auf meinem Schreibtisch auf den wichtigen Papieren, die ich gerade brauche. Auf meinem Kopfkissen direkt neben meinem Kopf in der Nacht“, sagte der Mann.
Die Katze nickte. „Du kannst mich an all diesen Plätzen sehen, obwohl Deine Augen geschlossen sind?“ fragte die Katze. „Selbstverständlich. Ich habe Dich dort so viele Jahre gesehen“, antwortete der Mann. Die Katze sprach: „Dann mußt Du nur immer, wenn Du mich sehen möchtest, Deine Augen schließen, und Du wirst mich sehen.“ „Aber Du wirst nicht wirklich da sein.“ antwortete der Mann traurig. „Wirklich nicht?“ fragte die Katze.
„Bitte heb die Kordel dort vom Fußboden auf, die da, mein Spielzeug.“ Der Mann öffnete seine Augen und hob das Stück Schnur auf. Es war zwei Fuß lang, und die Katze hatte oft stundenlang damit gespielt. „Woraus besteht dieses Stück Kordel?“ fragte die Katze. „Sie ist aus Baumwolle gemacht“, antwortete der Mann. „Stammt sie von einer Pflanze?“ fragte die Katze. „Ja“, sagte der Mann. Die Katze fragte: „Von einer Pflanze, oder von mehreren?“ „Von vielen Baumwollpflanzen“, antwortete der Mann. „Und auf dieser Erde, auf der die Baumwollpflanzen wachsen, wäre es auch möglich, daß dort andere Pflanzen und Blumen gedeihen? Könnte eine Rose neben der Baumwolle wachsen?“ fragte die Katze. „Ja, ich bin mir sicher, daß das ginge“, antwortete der Mann. „Alle Pflanzen würden von dieser Erde genährt, und alle könnten denselben Regen trinken?“ fragte die Katze. „Ja, das wäre möglich“, sagte der Mann. „Dann sind sich all diese Pflanzen, die Rose und die Baumwolle, sehr ähnlich, obwohl sie nach außen so unterschiedlich aussehen“, sagte die Katze.
Der Mann nickte zum Einverständnis mit dem Kopf, obwohl er nicht sah, was dieses alles mit seiner momentanen Situation zu tun hatte. „Dieses Stück Kordel“, fragte die Katze, „ist es das einzige Stück, daß aus Baumwolle hergestellt wurde?“ „Nein“, sagte der Mann. „Das ist es sicher nicht. Es ist ein Stück Schnur von einer Kordelrolle.“ „Und weißt Du, wo all die anderen Kordeln von dieser Rolle sind, und wo die Rolle ist?“ fragte die Katze. „Nein, das weiß ich nicht. Es ist unmöglich, es zu wissen“, antwortete der Mann. „Aber, obwohl Du nicht weißt, wo alle diese Stücke sind, glaubst Du daran, daß sie existieren. Wenn also ein Stück Kordel hier bei Dir ist und andere anderswo, einige sind länger und andere kürzer, und auch wenn es nicht nur eine Kordelrolle gibt, bist Du damit einverstanden, daß alle in einer Beziehung zueinander stehen?“ fragte die Katze. „Ich habe nie darüber nachgedacht, aber ja, ich denke, das tun sie“, sagte der Mann.
„Was würde passieren, wenn ein Stück Baumwollband auf die Erde fallen würde?“ fragte die Katze. „Nun, es würde eventuell mit Erde bedeckt und könnte so wieder anwachsen“, antwortete der Mann. „Ja“, sagte die Katze. „Es würde dann mehr Baumwolle wachsen, oder eine Rose.“ „Ja, das ist sicher möglich“, antwortete der Mann. „Dann würde eine Rose auf Deiner Fensterbank sprießen, die zu der Kordel in Deiner Hand ebenso eine Beziehung hat, wie zu allen anderen Teilen der Schnüre, von denen Du nicht weißt, wo sie sind“, sagte die Katze. Der Mann runzelte gedankenvoll die Stirn.
„Bitte nimm jedes Ende dieser Kordel in eine Hand“, bat die Katze. Der Mann tat es. „Das Ende in Deiner linken Hand ist meine Geburt, und das Ende in Deiner rechten Hand ist mein Todestag. Nun führe beide Enden zusammen“, sagte die Katze. Der Mann tat es. „Du hast nun einen Kreis erzeugt“, sagte die Katze. „Sieht irgendeine Stelle an diesem Band anders, besser oder schlechter aus, als eine andere?“ Der Mann inspizierte das Stück Kordel und schüttelte dann den Kopf. „Nein.“ „Unterscheidet sich der Innenraum des Kreislaufes von dem äußeren?“ fragte die Katze. Wieder schüttelte der Mann den Kopf. „Nein“, aber er war sich nicht ganz sicher, die Katze richtig zu verstehen. „Schließe wieder Deine Augen“, sagte die Katze. „ Nun lecke Deine Hand.“
Der Mann riss vor Erstaunen seine Augen auf. „Bitte tu es“, sagte die Katze. „Leck Dir Deine Hand und denk an mich auf meinen hier vertrauten Plätzen. Denke auch an die Teile der Kordel, denke an die Baumwolle und an die Rose. Denke auch daran, daß sich das Innere des Kreislaufes nicht vom Äußeren unterscheidet.“ Der Mann kam sich etwas töricht vor, aber er leckte sich die Hand, wie ihm gesagt wurde. Er stellte fest, daß es sehr beruhigend war, sich die Pfote zu lecken. Sicher wußten Katzen das. Und es befreite den Kopf, man konnte viel klarer denken. Er leckte sich weiter die Hand und begann zu lächeln. Es war das erste Lächeln seit vielen Tagen. Er wartete darauf, daß die Katze ihn aufforderte, mit dem Lecken der Hand aufzuhören. Als sie es nicht tat, öffnete der Mann seine Augen. Die Augen der Katze waren geschlossen. Der Mann streichelte ihr warmes braunes Fell, aber die Katze war gegangen.
Der Mann schloss seine Augen wieder, während Tränen über seine Wangen liefen. Er sah seine Katze auf dem Fensterbrett, in seinem Bett, auf seinen wichtigen Papieren liegen. Er sah sie auf seinem Kopfkissen neben seinem eigenen Kopf, sah die leuchtenden goldenen Augen und die dunkelste Stelle ihres Felles an der Nase und an den Ohren. Er öffnete seine Augen und sah hinüber zu einer Rose, die in einem Topf auf dem Fensterbrett der Küche blühte und dann zu der Kordel, die er nach wie vor als Kreis zusammengefügt in seinen Händen hielt. Eines Tages, nicht lange danach, saß wieder eine Katze auf seinem Schoß. Sie war eine wunderschöne, dreifarbige Glückskatze mit hohem Weißanteil, wie Baumwolle. Sie sah völlig anders aus als seine frühere so geliebte Katze und gleichzeitig so ähnlich.
Übersetzt von Maren mit Lieschen