Zum Nachdenken

Die Rattenmutter

Es war an einem Dienstag im August (21.08.2007). Im Laufe des Nachmittags hatte es begonnen, heftig zu regnen. Es sah aus, als ginge die Welt gerade unter. In großen Bächen rann das Wasser von den Feldern und überflutete in kürzester Zeit viele Straßen.

Da ich dringende Termine hatte, setzte ich mich in´s Auto und fuhr los. Der Regen prasselte unerbittlich auf die Windschutzscheibe meines Wagens, und die Scheibenwischer gaben sich die allergrößte Mühe, für halbwegs passable Sichtverhältnisse zu sorgen. Doch die Gischt der entgegenkommenden Fahrzeuge erschwerte ihre Arbeit zusätzlich.

Ich fuhr die Landstraße entlang, auf der reger Verkehr herrschte. Plötzlich bemerkte ich mit Entsetzen direkt vor meinem Wagen eine Rattenmutter, die bei diesem Unwetter todesmutig über die Straße lief. Ganz behutsam trug sie ihr Junges zwischen den Zähnen und versuchte mit aller Kraft, gegen die Wassermassen anzukämpfen.

In Sekundenschnelle prüfte ich die Verkehrssituation – ich konnte weder bremsen, da der Wagen hinter mir viel zu dicht auffuhr, noch konnte ich auf die Gegenfahrbahn ausweichen. „Lieber Gott“, dachte ich nur, „bitte beschütze diese arme Rattenmama!“ Gleichzeitig erwartete ich entsetzt das furchtbare Gefühl, mit dem Auto gerade ein Tier zu überfahren.

Doch nichts geschah. Ich versuchte schnell, durch einen Blick in den Rückspiegel herauszufinden, ob es dem Tier gelungen war, seinen Weg fortzusetzen. Aber ich konnte es nicht erkennen.

Völlig geschockt setzte ich meinen Weg fort. Die ganze Zeit über hatte ich dieses Bild vor Augen. Nur einen Bruchteil von Sekunden habe ich diese Situation wahrnehmen können, aber der Anblick der Rattenmutter hat mich unglaublich beeindruckt. Ich sah ihre Not, unter allen Umständen ihr Kind in Sicherheit bringen zu wollen. Unter größter körperlicher Anstrengung, jedoch mit enormer Sicherheit setzte sie trotz Verkehrs und heftigen Regens ihren Weg fort. Durch ihren Gang und ihre Körperhaltung hat sie mir das Gefühl völliger Unerschrockenheit übermittelt.

Ich weiß nicht, ob es ihr gelungen ist, den Rest der Straße zu überqueren und ihr Ziel zu erreichen. Ich wünsche es ihr und ihrem Kind. Und manchem Menschen wünsche ich in ähnlich schwierigen Situationen ebenso viel Kraft, Mut und Entschlossenheit.

Cornelia Siewert, 21.08.2007

Freunde haben keine Gebrechen

"Junge mit Hund" von Édouard Manet
"Junge mit Hund" von Édouard Manet

In einem Kleintiergeschäft hing folgener Zettel in einem Schaufenster: „Neugeborene, wunderschöne Hunde günstig zu verkaufen.“ Solche Anzeigen interessieren vor allem Kinder, und schon stand ein kleiner Junge im Geschäft und fragte den Verkäufer: „Was kostet so ein kleiner Hund?“ Der Besitzer antwortete: „Zwischen 30 und 50 Franken.“ Der Junge kramte in seiner Hosentasche und nahm einige Münzen heraus. Er sagte: „Ich habe nur 6 Franken 55. Darf ich sie trotzdem sehen?“

Der Mann lächelte und pfiff ganz leise. Aus der Türe hinten sprang eine Hündin, und hinter ihr torkelten fünf niedliche Welpen. Der letzte und kleinste Welpe hinkte und hatte Mühe, den anderen zu folgen.

Sofort zeigte der Junge auf diesen Hund und fragte: „Was ist mit diesem kleinen Hund passiert?“ Der Mann erklärte ihm, daß dieser Hund mit einem Defekt geboren sei und laut Tierarzt immer hinken und niemals richtig springen werde.

Fest entschlossen sagte der Junge: „Diesen Hund möchte ich kaufen!“ Der Besitzer des Geschäftes antwortete gutmütig: „Nein, diesen Hund wirst Du nicht kaufen – ich schenke ihn Dir!“

Der Junge machte ein verärgertes Gesicht, schaute dem Besitzer in die Augen und sagte: „Ich will ihn nicht geschenkt. Er ist ebenso wertvoll wie die anderen, und ich zahle den vollen Preis! Ich werde jetzt meine 6 Franken 55 als Anzahlung geben, und jeden Monat werde ich 5 Franken bezahlen, bis er ganz bezahlt ist.“

Der Mann antwortete ihm: „Du wirst doch nicht wirklich diesen Hund kaufen wollen, mein Sohn! Er wird nie springen, spielen und jagen können wie die anderen Hunde.“

Der Junge bückte sich, zog das linke Hosenbein herauf und zeigte ein schrecklich verstümmeltes Bein, welches mit einem Eisenstab unterstützt wurde. Er schaute den Mann erneut an und sagte: „Nun ja, ich kann auch nicht gut springen, und dieser Hund braucht jemanden, der ihn versteht.“

Der Mann schämte sich, und seine Augen wurden verräterisch rot. Lächelnd sagte er: „Mein Junge, ich hoffe nur, daß die anderen vier Hunde auch einen Besitzer wie Dich finden!“

Übersetzt und zum Teil abgeändert von Albin Schmutz

Der bessere Weg

Ein kleiner Junge, der auf Besuch bei seinem Großvater war, fand eine kleine Landschildkröte und ging gleich daran, sie zu untersuchen. Im gleichen Moment zog sich die Schildkröte in ihren Panzer zurück, und der Junge versuchte vergebens, sie mit einem Stöckchen herauszuholen. Der Großvater hatte ihm zugesehen und hinderte ihn daran, das Tier weiter zu quälen.

„Das ist falsch“, sagte er, „komm, ich zeig‘ Dir, wie man das macht.“

Er nahm die Schildkröte mit in´s Haus und setzte sie auf den warmen Kachelofen. In wenigen Minuten wurde das Tier warm, steckte seinen Kopf und seine Füße heraus, und kroch auf den Jungen zu.

„Menschen sind manchmal wie Schildkröten“, sagte der Mann. „Versuche niemals, jemanden zu zwingen. Wärme ihn nur mit etwas Güte auf, und er wird seinen Panzer verlassen können.“

Autor leider nicht bekannt

Die Geburt des Schmetterlings

Ein Wissenschaftler beobachtete einen Schmetterling und sah, wie sehr sich dieser abmühte, durch das enge Loch aus dem Kokon zu schlüpfen. Stundenlang kämpfte der Schmetterling, um sich daraus zu befreien. Da bekam der Wissenschaftler Mitleid mit dem Schmetterling, ging in die Küche, holte ein kleines Messer und weitete vorsichtig das Loch im Kokon damit sich der Schmetterling leichter befreien konnte.

Der Schmetterling entschlüpfte sehr schnell und sehr leicht. Doch was der Mann dann sah, erschreckte ihn sehr. Der Schmetterling der da entschlüpfte, war ein Krüppel.

Die Flügel waren ganz kurz, und er konnte nur flattern, aber nicht richtig fliegen. Da ging der Wissenschaftler zu einem Freund, einem Biologen, und fragte diesen: „Warum sind die Flügel so kurz, und warum kann dieser Schmetterling nicht richtig fliegen?“

Der Biologe fragte ihn, was er denn gemacht hätte. Da erzählte der Wissenschaftler daß er dem Schmetterling geholfen hatte, leichter aus dem Kokon zu schlüpfen.

„Das war das Schlimmste, was Du tun konntest. Denn durch die enge Öffnung ist der Schmetterling gezwungen, sich hindurchzuquetschen. Erst dadurch werden seine Flügel aus dem Körper herausgequetscht, und wenn er dann ganz ausgeschlüpft ist, kann er fliegen.

Weil Du ihm geholfen hast und ihm den Schmerz ersparen wolltest, hast Du ihm zwar kurzfristig Erleichterung verschafft, ihn aber langfristig zum Krüppel gemacht.“

Wir brauchen manchmal den Schmerz, um uns entfalten zu können – um der oder die zu sein, die wir sein können. Deshalb ist die Not oft notwendig – die Entwicklungschance die wir nutzen können.

Autor leider nicht bekannt

Die Dame im Café

Eine alte Dame setzt sich in ein Café. Die Kellnerin bringt ihr die Menü-Karte und fragt nach, was sie denn bestellen möchte.

Die alte Dame fragt: „Wie teuer ist bei ihnen ein Stück von der Torte“? Die Kellnerin antwortet: „5 Euro.“ Die gebrechliche alte Dame holt einige Münzen aus ihrer Tasche und beginnt langsam zu zählen. Dann fragt sie wieder: „Und wie teuer ist bei ihnen ein einfaches Stück Kuchen?“

Die Kellnerin war etwas gestreßt, da sie ja noch viele Tische bedienen mußte, und antwortete sehr ungeduldig: „4 Euro“. – „Das ist gut, dann nehme ich gerne den einfachen Kuchen“, antwortete die alte Dame.

Die Kellnerin brachte ihr genervt den Kuchen und legte gleich die Rechnung hin. „Immer diese geizigen Leute“, murmelte sie leise vor sich hin.

Die alte Dame aß ganz langsam und genußvoll den Kuchen, stand langsam auf, legte das Geld auf den Tisch und ging. Als die Kellnerin nun den Tisch aufräumen wollte, stellte sie fest, daß die alte zerbrechliche Dame ihr 1 Euro Trinkgeld hingelegt hatte. Sie bekam vor Rührung Tränen in die Augen. Aber es war zu spät um sich bei der alten Dame zu entschuldigen.

Sie begriff schmerzhaft und sich schrecklich mies fühlend, daß die alte Dame sich mit einem einfachen Stück Kuchen begnügte, um der Kellnerin Trinkgeld zu schenken.

Diese rührende Geschichte zeigt uns deutlich, daß wir nicht vorschnell urteilen dürfen. Denn bevor Du über jemanden urteilst, schau hinter seine Mauern. Erkenne seine Ängste und Sorgen. Dann wirst Du sehen, wie zerbrechlich der Mensch hinter der Maske ist…

(Autor leider nicht bekannt)

Der Strafzettel

Jack schaute kurz noch einmal auf seinen Tachometer, bevor er langsamer wurde: 73 in einer 50er Zone. Mist, das war das vierte Mal in gleicher Anzahl von Monaten.

Er fuhr rechts an den Straßenrand und dachte: „Lass den Polizisten doch wieder einmal herummosern über meinen Fahrstil. Mit etwas Glück würde ein noch schnellerer Autofahrer an ihnen vorbeiflitzen, an dem der Bulle mehr Interesse hätte.“

Der Polizist stieg aus seinem Auto, mit einem dicken Notizbuch in der Hand. War das etwa Bob? Bob aus der Kirche?

Jack sank tiefer in seinen Sitz. Das war nun schlimmer als der Strafzettel: Ein christlicher Bulle erwischt einen Typen aus seiner eigenen Kirche. Er stieg aus dem Auto, um Bob zu begrüßen.

„Hi Bob. Komisch, daß wir uns so wiedersehen !“

„Hallo Jack.“

„Ich sehe, Du hast mich erwischt in meiner Eile, nach Hause zu kommen, um meine Frau und Kinder zu sehen.“

„Ja, so ist das.“

„Ich bin erst sehr spät aus dem Büro gekommen. Diane erwähnte etwas von Roast Beef und Kartoffeln heute Abend. Verstehst Du, was ich meine?“

„Ich weiß, was Du meinst. Und ich weiß auch, daß Du soeben ein Gesetz gebrochen hast.“

Aua, dachte Jack. Das ging in die falsche Richtung. Zeit, die Taktik zu ändern.

„Bei wieviel hast Du mich erwischt?“

„Siebzig. Würdest Du Dich bitte wieder in Dein Auto setzen?“

„Ach Bob, warte bitte einen Moment. Ich habe den Tacho sofort gecheckt, als ich Dich gesehen habe! Ich habe mich auf höchstens 65 km/h geschätzt!“

„Bitte Jack, setz Dich wieder in Dein Auto.“

Genervt quetschte Jack sich wieder ins Auto. Ein Knall. Türe zu. Er starrte auf sein Armaturenbrett.

Bob war fleißig am Schreiben auf seinem Notizblock. Warum wollte Bob nicht seinen Führerschein und die Papiere sehen?

Dann klopfte Bob an die Tür. Er hatte einen Zettel in der Hand. Jack öffnete das Fenster, maximal 5cm, gerade genug, um den Zettel an sich zu nehmen. Bob reichte ihm den Zettel und ging dann zu seinem Auto, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

Jack faltete den Zettel auf. Was würde ihn dieser Spaß wieder kosten? Doch, Moment: War das ein Witz? Das war gar kein Strafzettel!

Jack las:

Lieber Jack,

ich hatte einmal eine kleine Tochter. Als sie sechs Jahre alt war, starb sie bei einem Verkehrsunfall. Richtig geraten; der Typ ist zu schnell gefahren.

Einen Strafzettel, eine Gebühr und drei Monate Knast – und der Mann war wieder frei. Frei, um seine Töchter wieder in den Arm nehmen zu dürfen. Alle drei konnte er wieder lieb haben.

Ich hatte nur eine, und ich werde warten müssen, bis ich in den Himmel komme, bevor ich sie wieder in den Arm nehmen kann. Tausend Mal habe ich versucht, diesem Mann zu vergeben. Tausend Mal habe ich gedacht, ich hätte es geschafft. Vielleicht habe ich es geschafft, aber ich muß immer wieder an sie denken. Auch jetzt. Bitte bete für mich.

Und sei bitte vorsichtig, Jack. Mein Sohn ist alles, was ich noch habe.

Bob

Jack drehte sich um und sah Bob nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Langsam fuhr auch er nach Hause. Zu Hause angekommen, nahm er seine überraschte Frau und die Kinder in den Arm und drückte sie ganz fest.

Das Leben ist so wertvoll. Behandle es mit Sorgfalt.

Verfasser leider nicht bekannt